Oliver Siebeck: Gelbes Fenster im Winter
Wer im Winter dieses Jahres in Berlin die Leberstraße entlangläuft, hat eine Begegnung mit einem gelben Fenster. Es ist ein leuchtendes Blütengelb, und es leuchtet dort aus einem Fenster heraus. Tagsüber leuchtet es einfach nur. Vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang leuchtet es einfach dem Licht und den Farben des Tages entgegen. Den Winterfarben, den Matschfarben, den Asphaltfarben, den Plakatfarben, den Fassadenfarben, den Fenster- und Türrahmenfarben des Berliner Wintertages entgegen. Es leuchtet blütengelb aus dem Fenster der Galerie drj in der Leberstraße auf der Roten Insel in Berlin.
In der Nacht, wenn die Farben des Tages verschwunden sind, kommt Bewegung in das Gelb. Es ist eine langsame Bewegung, die über die menschliche Geduld hinausgeht. Zwei Streifen, ein horizontaler Streifen und ein vertikaler Streifen, pixelschmal, beginnen, von links und oben aus durch das Gelb zu wandern. Sie wandern ein Mal durch das Bild in einer Nacht. Wer nicht über die normale menschliche Geduld hinausgeht, wer nicht stehenbleibt und schaut oder zweimal schaut, auf dem Hin- und Rückweg durch die Leberstraße schaut, bemerkt die Bewegung nicht. Die beiden schmalen Streifen schieben sich durch das gelbe Bild. Sie zerteilen die Nacht viereckig. Die Vierecke vergrößern und verkleinern sich im gelben Fenster durch die Nacht, in der Dunkelheit. Errechnet an den GPS-Koordinaten der Galerie drj in der Leberstraße1 beginnt die Bewegung der schmalen Streifen im Winter exakt bei Sonnenuntergang und stoppt exakt bei Sonnenaufgang. Exakt nach einem Durchlauf durch das gelbe Fenster hindurch. Eine geometrische Sanduhr, ein doppelt linearer Zeitverlauf.
Das viereckig bewegte Blütengelb leuchtet in die Berliner Nacht hinein und über die Bilder der Leberstraße auf der Roten Insel hinaus. Auf Horizonte am Meer, das von Wellenbrechern geteilt wird. Auf Rapsfelder, durch die der Dieseltraktor fährt. Auf langsame Bilder, die über die normale menschliche Geduld hinausgehen. Auf das Herbstgelb, das von den Bäumen auf die Straße fiel und sich langsam mit dem Matsch vermischte.

Herbst 2021, Thomas Goldstrasz

1 Galerie drj: 52.481617 | 13.361272